Eine Behinderung namens Corona – Vom Lockdown zur Impfung und zurück?
Menschen mit Behinderungen werden in der Pandemie regelmäßig vergessen. Bei den nun laufenden Impfungen scheint sich dieser Umstand zu wiederholen. Deswegen haben wir uns entschieden schnell das Gespräch zu suchen. Gemeinsam mit Raul Krauthausen, Corinna Rüffer (MdB) und meiner Kollegin Catherina Pieroth (MdA) haben wir öffentlich am 17. Februar 2021 über die aktuelle Situation beraten. Unser digitales Fachgespräch im Fishbowl-Format sollte möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Das war bei teilweise über 110 Teilnehmer*innen dann natürlich nicht komplett realisierbar. Als Moderatorin entschuldige ich mich bei denjenigen, die leider nicht zu Wort kommen konnten. Ich mache allen ein Gesprächsangebot über die Veranstaltung hinaus.
Die Begrüßung der digitalen Veranstaltung übernahm dankenswerterweise unsere Fraktionsvorsitzende Silke Gebel (MdA). Auch sie verwies schnell auf die aktuell schwierige Situation von Menschen mit Behinderung. Sie begrüßt den regelmäßigen Austausch, um für Inklusion einzutreten und Fehler in den Maßnahmen frühzeitig zu verhindern daher ausdrücklich. Ihre Hoffnung liegt in den nun startenden Impfungen und bald frei verfügbaren Schnelltests. Beides soll die Situation schnellstmöglich entschärfen.
Corinna Rüffer fand in ihrem Eingangsstatement klare Worte und kritisierte den Umgang mit Menschen mit Behinderung. Inklusion wurde während der Pandemie quasi vergessen, Teilhabe fand so gut wie nie statt. Diese Situation ist insbesondere für Menschen, die sich aufgrund ihres eigenen gesundheitlichen Risikos fast komplett zurückziehen mussten, untragbar. So gab es keine Versorgung mit Masken, Tests und nun auch die fehlende Priorisierung bei den Impfungen für diese Menschen. Erst im Nachhinein und nach sehr viel Kritik wurden Maßnahmen angepasst. Inklusion sieht aus Ihrer Sicht ganz anders aus. Sie erinnerte die Anwesenden an die starke gesellschaftliche Wirkung der Inklusion für das Zusammenbringen der Menschen. Für sie ist Inklusion die Antwort auf die Spaltung der Gesellschaft.
Auch Raul Krauthausen wies auf die, für viele Betroffene sehr unklare Gefahrenlage hin. Gleichzeitig nimmt der psychische Stress und die Angst weiter zu. Er erwartet eine große Welle an psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Menschen mit Behinderungen.
Als Betroffener und Aktivist fühlt er sich regelmäßig vergessen. Mittlerweile ist das Misstrauen in die Politik sehr stark. Er beschreibt einen Paradigmenwechsel. So kämpfte er früher für Verbesserungen, heute nur noch gegen Verschlechterungen. Es mangelt an Tests, Masken, Informationen in einfacher Sprache, Gebärdendolmetschungen in Pressekonferenzen des Gesundheitsministers oder nun Impfpriorisierungen. Überall werden Menschen mit Behinderungen schlicht vergessen. Die Pauschale Impfpriorisierung der Stiko lehnt er ab und fordert eine stärke Einbeziehung der Betroffenen und der sie behandelnden Fachärzt*innen. Ganz praktisch fragt er sich, wie er selbst zum Impfzentrum kommen soll, während in Berlin weiterhin kaum inklusive Taxis fahren, geschweige denn gut bestellbar sind.
In der folgenden Diskussion berichteten zahlreiche Betroffene und Angehörige von den selben Gefühlen und Ängsten. Gerade das „nicht gehört werden“ nagt bei vielen sehr und führt zur Resignation oder Verzweiflung. Frau Brinkmann, als Mutter einer Tochter in der Eingliederungshilfe, berichtet von einer geringen Testbereitschaft der Mitarbeiter*innen aufgrund der Freiwilligkeit der Tests. Als pflegepolitische Sprecherin, konnte ich diese Situation mit den Pflegeeinrichtungen vergleichen und die Wichtigkeit von verpflichtenden Tests für die gesamte Belegschaft hervorheben.
Frau Yildiz Akgün von Mina e.V. erinnerte in diesem Zusammenhang an die doppelte Belastung der Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund. Sie werden teilweise schlicht doppelt vergessen. Besonders hart trifft es Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung in den Gemeinschaftsunterkünften. Dort ist weder eine sichere Isolation möglich, noch selbstverständlich wirkende Hygienestrukturen vorhanden. Auch Frau Stefanie Los wies auf die hohe Belastung für Familien, insbesondere mit Migrationshintergrund hin. Kitaschließungen und Homeschooling stellen eine zunehmende psychische Belastung dar. Sie wünscht sich eine zentrale Stelle zur Koordinierung der Kita-Notbetreuungen und weiteren Angeboten.
Thomas Kauschke berichtete von der positiven Wirkung einer Tagesstruktur, gerade auf die von Raul angesprochene Gefahr der Depression. Er sei sehr glücklich derzeit weiter in seiner Werkstatt arbeiten zu können. Dafür wurde bei der USE einiges investiert.
Als gehörlose Aktivistin wies Julia Probst erneut auf den Missstand fehlender Gebärdendolmetschung hin. Viele wichtige Informationen erreichen aktuell gar nicht oder nur auf Umwegen die Menschen, die sie dringend brauchen. Unsere Veranstaltung wurde doppelt gedolmetscht, mit Gebärden und Schriftdolmetschung. Hier gilt unser besonderer Dank an die Dolmetscher*innen.
Impfungen müssen gut vorbereitet und kommuniziert werden
In der Folge versuchten wir uns dem großen Thema Impfung zu widmen. Catherina Pieroth (MdA) führte als gesundheitspolitische Sprecherin in die Diskussion ein. Für sie handelt es sich nicht um ein rein medizinisches Thema. Für sie geht es auch um Selbstbestimmung. Um diese zu gewährleisten sind eine gute Aufklärung und Beratung zentral. Catherina griff dabei meine Forderung eines Pandemierates7 bzw. einer Pandemiekommission auf. Sie beschrieb die Berliner Impfkommission, die in der nächsten Woche die Arbeit aufnehmen wird und dann über Härtefälle beraten soll. Grundsätzlich machte sie Hoffnung auf März und April. In diesem Zeitraum wird sich die Versorgung mit Impfstoff stark verbessern. Sorgen bereitet ihr jedoch die Situation um die Einladungen. Derzeit ist es schwer an die Adressen von Menschen mit Vorerkrankungen zu kommen. Sie hofft hier auf die Bundesgesetzgebung und eine enge Abstimmung mit der Kassenärztlichen Vereinigung. Es ist imminent wichtig die Risikogruppen zeitnah einladen zu können.
Ich persönlich war sehr froh bei unserem Gespräch auch die Familie Over aus Rheinland Pfalz begrüßen zu können. Benni Over wurde als einer der ersten jungen Menschen mit Behinderung geimpft. Sein Vater berichtete von dieser sehr glücklichen Einzelfallentscheidung und von dem sehr schweren Leben mit der Pandemie. Benni leidet an einer Muskeldystrophie und muss beatmet werden. Seit Februar 2020 befindet sich die Familie in Quarantäne. Sie hat sehr lange auf die Impfung gewartet, um mit ihr wieder etwas weniger Angst haben zu können. Die Impfpriorisierung war dann ein Schock. Die Stiko hat Menschen mit Behinderungen am Anfang vergessen und stur auf die Statistiken der Pandemie geschaut. Dort tauchen viele Krankheiten einfach nicht auf. Das mindert aber das Risiko nicht. Durch sehr viele Briefe und Gespräche mit der Politik erreichten sie dann einen Erlass der Ministerpräsidentin Malu Dreyer und damit die Impfung. Vater Klaus weiß aber, dass das keine Lösung für Alle ist. Nicht jede*r kann diese Energie aufbringen oder sich sogar durchklagen. Er wünscht sich daher eine frühere Einbindung der Betroffenen in die Entscheidungsprozesse.
Christian Peth vom Paritätischen Wohlfahrtsverband wies auf die Dringlichkeit der Umfeldimpfungen für Kinder unter 16 Jahren hin, nur so können wir Kinder mit Behinderungen derzeit gut schützen.
Yildiz Akgün und Julia Probst verwiesen im Rahmen der Impfdiskussion auf die Wichtigkeit von Informationen in einfacher Sprache, Übersetzungen in andere Sprachen und die Begleitung der Menschen bei ihren Impfterminen. Auch hier muss es dann die Möglichkeit der Gebärdendolmetschung geben.
In der Folge beschrieb Dr. Michael Schulze seine Sicht als Arzt. Er versteht die derzeitige Hektik und den Zeitdruck nicht, da wir bereits seit Monaten wussten, dass die Impfungen kommen werden. Hier wäre mehr Vorbereitung möglich gewesen. Er sieht die größten Schwierigkeiten in der Häuslichkeit und dem logistischen Problem der stark zu kühlenden Impfstoffe. Menschen, die nicht in die Impfzentren kommen können, sind derzeit kaum zu impfen. Leider gibt es sehr viel schlechte Presse um den Impfstoff von AstraZeneca. Er persönlich hat sehr viel Hoffnung auf diesen Impfstoff gesetzt, insbesondere weil er besser zu transportieren ist.
Als Arzt sieht auch er eine Gefahr darin, die Priorisierung nur nach Diagnosen zu machen. Krankheiten haben teilweise sehr unterschiedliche Ausprägungen und damit Risikograde. Eine bessere Einbindung der behandelnden Ärzte hält er für begrüßenswert.
Gegen Ende der Veranstaltung kam auch Frau Christine Braunert-Rümenapf zu Wort. Auf meine Frage ob wir laut genug sind, antworte sie mit einem klaren „Nein“. Auch sie versucht laut zu sein, aber es müsse noch mehr werden. Sie bemängelt insbesondere das schlechte Informationsmanagement und wünscht sich für die Zukunft eine Auswertung dieser Phase. Sie hält es für wichtig, dass wir daraus lernen, da sonst Alles umsonst gewesen wäre. Große Sorge hat sie mit Blick auf die angestauten Defizite im Bildungsbereich, sowie der Behandlungen von chronischen Erkrankungen. In beiden Feldern bauen sich gerade große Verluste auf.
Die Schlusswörter dieser sehr angeregten Diskussion gehörten dann Raul und Corinna. Raul wünscht sich ein Ende des Opferwettbewerbes und eine zügige Impfung mit klaren Regeln ohne Privilegierungen. Die Fähigkeit zur politischen Kommunikation darf nicht über den Impfzeitpunkt entscheiden. Die Politik ist in der Verantwortung das zu verhindern. Er wünscht sich hier mehr Aktivität und Vorbereitung der Politik. Wir müssen die Fehler analysieren und auch auch mal über den Tellerrand schauen. So ist insbesondere Österreich viel schneller bei den Impfungen von Menschen mit Behinderung. Deutschland ist nicht automatisch Weltmeister, sondern muss hart dafür arbeiten.
Corinna würdigt zum Abschluss Rauls unermüdlichen Einsatz und begrüßt, dass es auch mal lauter werden muss, insbesondere wenn Menschen mit Behinderung zum wiederholten Mal vergessen werden. Bennis Geschichte zeige uns, wo es hapert und welche Verantwortung wir in der Politik hätten. Es ginge bei vielen Fragen um das nackte Überleben. Die Diskussion um die Triage ist nur der Höhepunkt dieser Entwicklungen.
Ich bedanke mich bei allen Beteiligten und hoffe inständig, dass wir Menschen mit Behinderung in Zukunft besser in den Prozess einbinden können. Ein regelmäßig tagender Pandemierat kann hier eine wesentliche Verbesserung bringen.
Eure Fatoş Topaç
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