Mit der Pandemie wurden uns die sozialen Verwerfungen in unserer Stadt klar vor Augen geführt. Positive Entwicklungen der letzten Jahren wurden in wenigen Monaten in Frage gestellt oder weit zurückgeworfen. Die Schere zwischen Arm und Reich driftet derzeit noch schneller auseinander und wirkt sich massiv auf den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft aus. Der andauernde Ausnahmezustand und die Angst vor der Ansteckung hinterlassen weitere Spuren. Wir erleben eine Zunahme von psychischen Erkrankungen. Insbesondere Alleinerziehende haben in den letzten Monaten am Rande des Zumutbaren ihr berufliches wie familiäres Leben bewältigen müssen. Kinder und Jugendliche verlernen das Lernen und werden in ihrer Entwicklung gestört. Mit dem Social Distancing kam auch die Isolation und die Einsamkeit. Diese trifft alle Altersgruppen und Schichten.
Dazu spüren viele Menschen aufgrund von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit erhebliche finanzielle Einbußen. Die Reallöhne fallen zum ersten Mal seit Jahren. Zahlreiche Menschen drohen so über kurz oder lang in eine verfestigte Armut zu fallen. Seit Beginn der Pandemie sehen wir einen Anstieg der Beratungsanfragen bei den Schuldnerberatungsstellen. Wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind ihre Mieten zu zahlen, droht uns für die nächsten Monate auch eine weiter steigende Wohnungslosigkeit. Die bereits vor der Pandemie schwere Arbeitssituation in der Pflege verschärft sich durch die Infektionsschutzmaßnahmen weiter zusehends.
Wichtige gesellschaftliche Ausgleiche wie Kultur, Sport oder das entspannte Ausgehen am Wochenende fielen auf der anderen Seite ersatzlos weg. Geblieben ist uns aber die Solidarität und der Glaube an unsere Resilienz.
Viele Menschen, Nachbarschaften und Initiativen haben sich solidarisiert und füreinander Aufgaben übernommen. Gabenzäune für Obdachlose entstanden, Silbernetz baute sein Hilfetelefon gegen Einsamkeit im Alter aus, der Begleitservice des VBB entwickelte sich zu einem Erledigungsservice weiter und Nachbarn übernahmen die Einkäufe für ihre Mitmenschen in Quarantäne. Sie alle sind die stillen Helden dieser Pandemie.
Indem wir den größten gesellschaftlichen Verwerfungen die Stirn zu bieten, erhalten wir Berlin als Lebenswerte Stadt des sozialen Zusammenhalt. Wir wollen mit Solidarität und sozialer Innovation aus der Krise gehen. Als Bündnis Grüne wissen wir, dass diese Stadt zusammen stehen kann und wie engagiert, solidarisch und couragiert ihre Menschen sind.
Folgende 10 Punkte sind für mich daher ganz entscheidend.
1. Keine Budgetkürzungen in Sozialen Fragen! Soziale Infrastruktur erhalten und stärken!
Jugendclubs, Nachbarschafts- und Senior*innenzentren, Wohnungslosentagesstätten, sie alle und noch viel mehr leisten im Rahmen des Möglichen gerade wichtige Unterstützungsarbeit. Budgetkürzungen in der sozialen Infrastruktur sind für mich daher tabu.
2. Den Schutz der Risikogruppen weiterhin in den Vordergrund stellen
Solange wir die Pandemie nicht besiegt haben, brauchen wir eine Test- und Impfstrategie die Risikogruppen und das sie begleitende Soziale Netz in den Vordergrund stellt. Sei es für den Besuch der Großmutter im Pflegeheim, für die Nutzer*innen und Kolleg*innen der Kältehilfe oder in den Rehabilitations-Werkstätten – sie alle verdienen Sicherheit.
3. Stärkung der Nachbarschaften – Die Kieze bleiben das Herz von Berlin
Sehr viele Menschen leben in sehr beengten Wohnverhältnissen und brauchen die Angebote der Nachbarschaft und damit wichtige soziale Ausweichmöglichkeiten. Gewachsene und diverse Kieze sind für uns absolute Gesundheitsfaktoren und stärken die Resilienz ihrer Bewohner*innen. Wir wollen daher Nachbarschaftzentren und das Quartiersmanagement weiter fördern und unterstützen.
4. Der Einsamkeit entschlossen entgegentreten
Insbesondere Angebotsstrukturen in diesem Bereich sollten wir stärken. Hilfen wie “Silbernetz e.V.” erreichen ältere Menschen z.B. durch Gesprächsangebote. Theater stellen ihre Programme um auch auch weiterhin Menschen kreativ zu unterstützen. Wir müssen Menschen auch unter Corona zusammenbringen, sei es digital oder mit Schutzmaßnahmen.
5. Flächendeckende Kiezkassen (Bürger*innenhaushalte)
Viele kleine Projekte sorgen für eine schnelle Entlastung vor Ort. Das Lastenrad zum Ausliefern von Lunchpakten für Obdachlose oder der Luftfilter für den Gemeinschaftsraum im Nachbarschaftszentrum helfen sofort. Wir sollten daher die Bürger*innenhaushalte aufstocken und in der Beantragung beschleunigen.
6. Ehrenamtliche sind die stillen Heldeninnen dieser Krise
Mit dem Wegbrechen zahlreicher ehrenamtlicher Strukturen haben wir die Wichtigkeit dieser Arbeit in ihrem Fehlen zu spüren bekommen. Seitdem hat sich die Struktur angepasst und viele Menschen engagieren sich unter den neuen Bedingungen. Die Freiwilligenagenturen stehen hier im Fokus und leisten Großartiges. Sie gilt es zu erhalten und auszubauen.
7. Die Beschäftigungsprogramme an die Pandemie anpassen
Überall entstanden in der Pandemie neue Bedarfe und damit auch neue Arbeit. Seien es Digital-Lots*innen die Senior*innen bei den ersten Schritten mit dem neuen Tablet helfen, Hausaufgabenbetreuer*innen, die einkommensschwache Alleinerziehende entlasten und damit den schulischen Erfolg gesellschaftlich benachteiligter Kinder stärken oder Alltagserlediger*innen die für Risikogruppen einkaufen könnten. Durch den Einsatz von „Kieztrainer*innen“ und Community Health Nurses (ehemalige Gemeindeschwestern) können wir darüber hinaus Gesundheit und Teilhabe in den Kiezen stärken.
8. Diversität, Inklusion und Partizipation sind derzeit wichtiger als je zuvor
Wir haben unter dem Schock und der Überforderung der Pandemie schnell Gruppen vergessen. Wenn wir die Pandemie meistern wollen und den Zusammenhalt stärken wollen, brauchen wir diversitätsoffenene Angebotsstrukturen und aktuelle Informationen in den Sprachen der jeweils größten Einwanderergruppen und in einfacher Sprache.
9. Digitalisierung ja – aber digital divide- nein danke !
Wir müssen die Digitalisierung weiterhin schnell voranbringen und Einrichtungen der Altenhilfe, der Pflege und der Eingliederungshilfe vernetzen. Wir schaffen damit einen weiteren Kanal zur Familie und den Freunden – ohne über Impfen, Masken und Schnelltests nachdenken zu müssen. Auch damit können wir der Einsamkeit begegnen und Inklusion und Teilhabe sichern. Eine neue digitale Kluft kann der gewünschten Inklusion aber entgegenstehen. Wir brauchen daher eine positive Digitalisierung, die alle mitnimmt und auf individuelle Bedarfe eingehen kann. Nur so ermöglichen wir eine echte digitale Teilhabe.
10. Ohne starke Verwaltung keine Krisenbewältigung
Die Krise hat unser erneut gezeigt, dass wir Verwaltungen brauchen, die mit ausreichend und modernen technischen Ressourcen ausgestattet sind. Wir dürfen daher bei der Digitalisierung der Berliner Verwaltung nicht nachlassen und müssen die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte schnellstmöglich aufholen. Die schnelle und unkomplizierte Mittelbeantragung bei den Jobcentern kann uns für die zukünftige Arbeit Pate stehen.
Auf den Bund zugehen und wichtige Rahmenbedingungen schaffen
Zur Bewältigung der Krise brauchen wir auch bessere bundesdeutsche Rahmenbedingungen. Die Kosten der Krise werden die kommunalen Haushalte demnächst in eine neue Verschuldung zwingen. Auf der anderen Seite reduzieren sich die Steuereinnahmen erheblich. Wir brauchen daher eine gerechte Verteilung der Lasten der Krise. Mit einer Vermögens- und einer Finanztransaktionssteuer schaffen wir Spielräume zur Bewältigung der Krise und zur nachhaltigen Ausstattung der kommunalen Haushalte. Wir sollten auch über einen Corona Solidaritätsabschlag für besonders große Einkommen und Kapitalgewinne nachdenken.
Die Krise hat uns auch gezeigt, wie fragil der Niedriglohnsektor ist. Mit der bündnisgrünen Garantiesicherung hat die Grüne Bundestagsfraktion ein umfassendes Konzept zur Überwindung von Hartz IV vorgelegt. Die Garantiesicherung unterstützt Menschen auf Augenhöhe, garantiert das soziokulturelle Existenzminimum und verringert verdeckte Armut. Sie verzichtet auf Sanktionen und ist frei von Stigmatisierung.
Auch brauchen wir weiterhin ein bundesweites Räumungsmoratorium bis zum wirklichen Ende dieser Pandemie. Wir dürfen in dieser Situation niemanden auf die Straße setzen und damit #stayhome verunmöglichen.
Verwandte Artikel
Fatos Topac
MEIN FACHGESPRÄCH: MENSCHEN MIT BEHINDERUNG IN DER PANDEMIE
Eine Behinderung namens Corona – Vom Lockdown zur Impfung und zurück? Menschen mit Behinderungen werden in der Pandemie regelmäßig vergessen. Bei den nun laufenden Impfungen scheint sich dieser Umstand zu…
Weiterlesen »
Vorstellung der neuen Wohnungslosenleitlinien
Die steigende Wohnungslosigkeit stellt eine große Aufgabe für Berlin dar. In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen ohne Obdach immer weiter gestiegen – heute leben bis zu 15.000…
Weiterlesen »
Bericht zum Fachgespräch: Aufsuchende Sozialarbeit für Erwachsene in Berlin
Unter dem Motto „Aufsuchende Sozialarbeit für Erwachsene in Berlin“ habe ich am 15.5.2019 mit meiner Kollegin Marianne Burkert-Eulitz ins Abgeordnetenhaus eingeladen, um über Erfahrungen, Grenzen und Handlungsbedarfe in den Austausch…
Weiterlesen »