In der Sitzung des Berliner Abgeordnetenhaus am 22.04.2021 habe ich einen Redebeitrag zur Novellierung des Wohnteilhabegesetzes (WTG) gehalten:
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es kommt dieser Tage selten vor, dass wir über positive Entwicklungen sprechen können. Infektionsschutzgesetze und Verordnungen waren vor 4 Jahren auf keiner Wunschliste von uns. Was aber auf der Liste stand, war die Novellierung des Wohnteilhabegesetzes! Ich freue mich sehr, dass wir heute in zweiter Lesung das Gesetz zur Novellierung des WTG beschließen können.
Der Weg zu diesem heutigen Moment war nicht einfach und wir haben in den letzten 4 Jahren viel Kraft aufgebracht, um die einzelnen Bausteine dieses Gesetzes miteinander abzustimmen. Diskussionen, Fachveranstaltungen und die Expertise aller Beteiligten führten zu den vorliegenden Veränderungen.
Ich bin mir sicher, liebe Kolleg*innen, nicht nur einmal – habe auch ich – in Koalitionsrunden für Unmut gesorgt, da ich immer wieder vehement für unsere Grünen Standpunkte eingetreten bin. Aber ich muss sagen, unser gemeinsames Ergebnis spricht für sich!
Im Fokus standen für uns immer die Menschen, die pflegebedürftigen Volljährigen und volljährige Menschen mit Behinderung in betreuten Wohnformen. Hier haben wir bereits die erste kleine, aber sehr wichtige Änderung im Gesetz: Zukünftig behandelt dieses Gesetz nicht einzig ältere pflegebedürftige Menschen. Wir stellen uns damit der Realität und gehen mit dem WTG auch auf junge Menschen in den betreffenden Wohnformen ein.
Insbesondere die Wohnform der Pflegewohngemeinschaften, die sogenannten Pflege-WGs erhalten nun einen rechtlich verbindlichen Rahmen. Und somit geht das WTG auch hier auf die veränderte reale Betreuungsstruktur in unserer Stadt ein. Das ist für mich einer der zentralen Punkte, neben dem festgeschriebenen Beratungsangebot für neue Anbieter*innen.
In unserer älter werdenden Stadt möchten immer mehr Menschen nicht allein leben und gleichzeitig eine hochwertige pflegerische Versorgung bekommen. Und Teilhabe und Selbstbestimmung sind für sie dabei selbstverständlich. Das ist auch richtig so! Genau dabei soll das neue WTG sie unterstützen. Denn unser Ziel, neben einer Rechtssicherheit für Leistungsanbieter*innen, war und ist es, den Weg zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe für die betroffenen Menschen zu ebnen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Für uns Grüne sind Selbstbestimmung und Teilhabe nicht einfach leere Formeln. Wir wollen und müssen alle endlich aufhören in Sonderwelten zu denken und zu agieren. Mit diesem Gesetz gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt im Interesse einer vollumfänglichen Inklusion.
Die Öffnung in den Sozialraum ist für meine Fraktion und für mich als Sozial- und Pflegepolitikerin eine zentrale Erneuerung dieses Gesetzes. Denn, nicht zumachen, sondern aufmachen und auch diese Berliner*innen als Teil des gesellschaftlichen Lebens einzubinden und auch Transparenz zu ermöglichen im Kiez ist etwas, wovon alle Seiten nur profitieren können!
Viele Leistungsanbieter*innen praktizieren diese Öffnung in den Sozialraum bereits mit viel Engagement ihrer Mitarbeiter*innen, der Angehörigen sowie Ehrenamtlichen Strukturen. Aber diese Praxis als allgemeinen Standard zu definieren und niederzuschreiben, war mir sehr wichtig! Für uns endet Teilhabe und Selbstbestimmung eben nicht an der Haus-, bzw. Einrichtungstür. Genau in Bezug auf diesen elementaren Standpunkt, wird dieses Gesetz noch einmal geschärft.
Ja, Mitwirkungsrechte gab es bereits in dem alten Gesetz. Diese wurden nun aber erweitert und mit dem Bereich der Beteiligungsrechte elementar gestärkt. Hierzu gehört für mich ganz zentral, dass zukünftig dem Wunsch einer diversitätsoffenen Pflege und Betreuung nach Möglichkeit auch entsprochen wird. Das gilt im Übrigen in der gesamten Pflegerischen Infrastruktur. Das sind wir der sehr diversen Berliner Bevölkerung auch schuldig!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wer von uns, hier in diesem hohen Haus, will kein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, wer bei uns einzieht, wie unsere Räumlichkeiten gestalten werden, oder was wir essen wollen?
Es hört sich lapidar an, aber die Mitbestimmung gerade alltäglicher Entscheidungen muss als allgemeingültiger Standard mitgedacht werden! Gerade in einem Bereich, in dem das noch nicht ausreichend geschieht, ist eine gesetzliche Verankerung wichtig!
Den wichtigsten Punkt haben wir im Gesetz daher auch an die wichtigste Stelle gesetzt: Der erste Paragraph schreibt ganz klar vor, dass die Bewohner*innen vor Missbrauch, Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung zu schützen sind. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir uns auch über die Koalition hinaus einig.
In diesem Zusammenhang haben wir auch die Anwendung freiheitsbeschränkender Maßnahmen durch die Nennung im neuen Gesetzestext deutlich hinterfragt.
Verstehen sie mich nicht falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die meisten Einrichtungen handeln mit hohem Einsatz und sehr viel Qualität im Interesse ihrer Bewohner*innen. Aber wirklich sichergestellt wird diese Qualität, mit der die Einrichtungen agieren, nun durch vorgeschriebene, auch anlasslose Prüfungen, für die ich mich sehr engagiert eingesetzt habe.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen die Mitteilung eines Leistungsanbieters, die mich kürzlich erreichte, nennen: Dieser Anbieter steht einer regelmäßigen, anlasslosen Prüfung sehr positiv gegenüber. Er möchte allerdings darauf hinweisen, dass es hierfür ausreichend, gut ausgebildetes Personal auf Seiten der Verwaltung bedarf.
Ja, da hat er absolut Recht! Denn es ist klar, eine qualitativ hohe regelmäßige Prüfung darf nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter*innen der Verwaltung ausgetragen werden. Darauf wird übrigens im Vorblatt des Gesetzes auch hingewiesen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
hier im Hause sprechen wir häufig über die Lehren aus der Pandemie. Häufig wird dann Digitalisierung genannt. Wir haben als Grüne Fraktion schon früh die Chancen der Digitalisierung im Hilfe- und Pflegesystem gesehen. Wir haben im Bund, wie auch im Land hierfür notwendige Veränderungen benannt und sie auch eingefordert und konkrete Vorschläge gemacht.Denn gerade in Pandemiezeiten hat sich doch gezeigt, welche einfachen Möglichkeiten zur Kommunikation mit digitalen Wegen wir hätten gehen können.
Deshalb freue ich mich umso mehr, dass auch in diesem Gesetz nun die Möglichkeiten geschaffen werden, Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung durch die Bereitstellung technischer und digitaler Assistenzgeräte zu gewährleisten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen anderen positiven Aspekt zu sprechen kommen: Mit der Neufassung des Gesetzes kommen wir der Umsetzung der „Pflege-Charta“ und der UN-Behindertenrechtskonvention ein weiteres Stück näher.
Aus unzähligen Gesprächen weiß ich: Viele Betroffene hätten sich ein schnelleres Ergebnis gewünscht. Der Prozess ging über 4 Jahre. Wir wissen aber alle, wie Corona unsere Pläne im letzten Jahr durchkreuzt hat. Heute zeigen wir, dass wir trotz aller Widrigkeiten und harten Diskussionen gemeinsam gute Ergebnisse erreichen konnten.
Als Koalition können wir stolz sein auf das neue WTG. Ich danke daher im Namen meiner Fraktion Bündnis 90/Die Grünen allen Vereinen, Verbänden und Akteur*innen, die in den letzten Jahren gemeinsam mit uns hart an diesem Gesetz gearbeitet haben.
Vielen Dank!
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